Warum ich nicht zum Segeln auf die Seychellen mitkomme

Natürlich möchte ich gerne von der einen zur anderen Insel der Seychellen segeln, den Wind und die Wellen spüren, die düsteren Gewitterwolken mit Sturm heranziehen sehen, bei schwüler Luft in der Sonne schwitzen und im warmen Wasser vergeblich Abkühlung suchen, das Leben unter Wasser beobachten, kühle Drinks genießen und mich über alle vergangenen und zukünftigen Spielarten des Lebens unterhalten. Denn Segeln ist für mich Freiheit und Leben; Werte, die aufs Engste verknüpft sind. Freiheit von den inneren und äußeren oberflächlichen Zwängen der Menschheit: nicht die vordergründigen Gesetze oder das übernommene und ferngesteuerte Verhalten der Menschen untereinander bestimmen das Leben, sondern zum Beispiel der Umgang mit Wind, Meer und Bootsmaterial. Es ist der Unterschied zwischen purer Existenz und dem Leben. Wenn der Wind das Boot so weit neigt, daß das Wasser über Bord getrieben wird, wenn man sich ohne Festhalten nicht mehr nach vorne bewegen kann, wenn man sich schnell entscheiden muß, wenn man Fehler macht, wenn der Wind so schwach ist, daß die Segel das Boot nur unmerklich bewegen und man dennoch segelt, wenn die Natur, unser Können und unsere Erfahrung sich paaren, dann haben wir einen Zipfel vom Leben gespürt. Wenn wir beim Segeln den dunkelblauen Blazer herausholen und andere indigniert ansehen, da sie scheinbar nichts vom "wahren Leben", nämlich wie man sich zu verhalten und kleiden hat, verstehen, wenn wir heimlich entsetzt sind, daß man sich beim Tennis Schwarz kleidet, wo doch Weiß angesagt ist, wenn man sich über die schnellsten Autos unterhält und sich dann über die amüsiert, die ihr Leben den Autos gewidmet haben, wenn die eine Frau die andere in ein vermeintlich intimes Gespräch über Männer hineinzieht und doch nur die bekannten Plattheiten weitergibt, wenn die Erfahrungen über die zuletzt angeschafften Klamotten und über die unmögliche, unpassende, altmodische, übertriebene, angeberische, geschmacklose, billige Aufmachung der Anderen ausgetauscht werden, wenn mitleidig über die gelächelt wird, die z.B. nur lesen und deren Hosen im Hintern zu locker sitzen, wenn dafür aufmunternd das schöne Hemd, das freche Kleid, die frische Bluse, das dezente Make-up bewundert wird, wenn man segelt, läuft, Scateboard oder auch Ski fährt, weil alle davon begeistert sind, bzw. weil es gerade im Gespräch ist, wenn wir so etwas äffisch mitmachen, dann existieren wir nur. Pure Existenz ist das Dahinvegetieren ohne eigene reflektierte Werte, es ist die Übernahme des bestehenden "In-Verhaltens", deren Perfektion im PR-Bereich und in der Werbung zu finden ist. Da kann es kaum verwundern, wenn es diese menschlichen Existenzen verwundert, daß auch Sechzigjährige gerne segeln oder gut Ski laufen oder klettern können. Natürlich wird bewundert, daß Alte Sport treiben, aber doch bitte so, wie man es von ihnen erwarten kann. Auch Bücher lesen oder ins Theater gehen wird ihnen zugebilligt, aber daß diese Bücher oder die Theaterstücke lohnende Welten darstellen, die ein reiches Leben beinhalten, wird letztlich nur verbal behauptet. Man ist ja tolerant und läßt andere gewähren, nur mit einem selber hat das alles nichts zu tun. Es ist das Interesse der Stewardess am Leben der Passagiere.

Im Alter von ca. 16 Jahren bin ich mit dem Faltboot sehr häufig bei meiner Tante auf einem mecklenburgischen See gesegelt. Der See ist mit Schilf und nur wenigen, reetgedeckten Häusern umrandet. Bei wenig Wind sah ich, wie die Getreidefelder von der Sonne hellgelb beleuchtet wurden und spürte den warmen und strohigen Geschmack, den solchen Felder inne haben. Die Kühe weideten oder lagen widerkäuend auf den halb grünen, halb gebräunten Hügeln nahe dem Ufer. Ich war ein Teil dieser Welt, mein Geist war nicht getrennt und es gab keine Frage nach dem Sinn. Zurückgekehrt hörte ich, wie meine Cousine sich über die immer schmutzigen Finger des Briefträgers lustig machte und ihrer Tochter einen ermunternden Klapps auf den Hintern gab, da sie so schick in dem neuen weißen Kleidchen aussah; wie eine richtige Dame. Heute hat die Kleine selber zwei kleine süße, gut angezogene saubere Kinder und einen durchaus geschmackvoll gekleideten Mann, der mit ihr viele Ausflüge im Auto unternimmt, mit ihr in Diskotheken geht, wenn sie es möchte, und sich wie sie um die Kinder kümmert. Früher ging sie mit ihm segeln, doch nach der kirchlichen Heirat mit Kutsche, die tatsächlich von zwei Schimmeln gezogen wurde, nicht mehr. Heimlich träumt sie heute davon mit mir ins Bett zu gehen. Meine Cousine hingegen pflegt jetzt ihre Mutter, meine Tante, indem sie regelmäßig das Zimmer tapeziert, die Wäsche macht und ihr erzählt, daß die Finger des damaligen Briefträgers doch wirklich übel waren und seine zwei verbliebenen schiefen Zähne auch keinen erhebenden Anblick darstellten. Früher bereitete meine Tante dem Briefträger um 8 Uhr seinen Kaffee auf einem holzbefeuerten Küchenherd, was zur Folge hatte, daß er bis 11 Uhr bei ihr saß und einige Geschichten aus seiner Vergangenheit als Fremdenlegionär erzählte. Heute macht dafür meine Cousine den Kaffee und träumt davon, endlich eine schöne Einbauküche zu bekommen, damit auch Gäste in die Küche kommen können, denn der jetzige Gasherd und die Nirostaspüle hinterlassen doch einen etwas popeligen Eindruck. Kurzum, niemand bezweifelt, daß meine Tante bestens versorgt ist. Als vor fünf Jahren plötzlich ein bösartiges Geschwür an der Gebärmutter meiner Cousine entdeckt wurde, bekam sie für alle überraschend psychische Probleme, die jedoch mit jeder Nachuntersuchung aufgrund des steten negativen Befundes zunehmend geringer wurden. Jetzt ist sie wieder ganz die alte.
Warum ich trotzdem dieses Essay schreibe? Ich liebe Alkohol und möchte kein Alkoholiker werden.

, 1.4.1997

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