Die Gibbssche Phasenregel

Im thermischen Gleichgewichts eines abgeschlossenen Systems muss gelten:

T' = T'' = T''' = ...    und
p' = p'' = p''' = ...

wobei ', '' und ''' die Zuordnung zu unterschiedlichen Bereichen im System angeben sollen. Weiterhin ist im Gleichgewicht das chemische Potential eines Stoffes überall in der Probe gleich groß, unabhängig davon, wie viele Phasen koexistieren. Wenn sich also eine flüssige und eine feste Phase eines Stoffes im Gleichgewicht miteinander befinden, dann ist das chemische Potential innerhalb der flüssigen Phase gleich dem in der festen Phase.

Diese räumliche Homogenität des chemischen Potentials kann man wie folgt beweisen. Betrachten wir ein System, bei dem das chemische Potential an einem Ort µ' und an einem anderen Ort µ" beträgt; beide Positionen können in der gleichen oder in zwei verschiedenen Phasen liegen. Wird nun eine Stoffmenge dn vom ersten zum zweiten Ort transportiert, verringern sich die Freie Enthalpie des Systems um µ'dn (wenn die Stoffmenge von ' entnommen wird) und nimmt um µ"dn zu (wenn der Stoff am Ort " wieder zugeführt wird). Die Gesamtänderung der Freien Enthalpie ist damit dG = (µ" - µ')dn. Wäre nun das chemische Potential am Ort ' höher als an ", nähme G während des Gesamtprozesses ab und dieser verliefe wieder freiwillig. Gleichgewicht liegt nun vor, wenn sich G bei einem derartigen Prozeß nicht ändert, wenn also µ" = µ' ist.

Alle thermodynamischen Systeme bestehen entweder aus einer oder aus mehreren Phasen (P). Unter Phase verstehen wir dabei einen Bereich, innerhalb dessen keine sprunghaften Änderungen irgendeiner physikalischen Größe auftreten, an deren Grenze jedoch solche Änderungen zu beobachten sind. Wir wollen die Phasen durch einen hochgestellten griechischen Buchstaben von einander unterscheiden: α, β, γ ... Das System ist entweder aus einer oder aus mehreren Komponenten (K) aufgebaut. Unter Komponente verstehen wir die minimale Anzahl voneinander unabhänger chemischer Stoffe, die wir benötigen, um die Phase herzustellen. Der Zustand des Systems ist durch eine von der Art des Systems abhängige Anzahl von Zustandsvariablen beschrieben. Unter Freiheitsgraden F wollen wir die Anzahl von Zustandsvariablen verstehen, die wir unabhängig voneinander variieren können, ohne dass dadurch eine der Phasen verschwindet.
Wir wollen zunächst davon ausgehen, dass in dem System keine chemischen Reaktionen ablaufen. Der Zustand einer jeden Phase ist eindeutig festgelegt, wenn wir p, T und die Molenbrüche x1 bis xk der K verschiedenen Komponenten angeben. Da jedoch definitionsgemäß Σi xi  = 1 ist, ist nur die Angabe von K - 1 Molenbrüchen erforderlich, um die Zusammensetzung der Phase eindeutig festzulegen. Für jede Phase müssen wir deshalb p, T und (K - 1) Molenbrüche, d. h. 1+1+(K-1) = K+1 Variable kennen, so dass die

Gesamtzahl der Variablen = P(K + 1)

ist. Auf Grund der Gleichgewichtsbedingungen bestehen aber zwischen diesen Variablen eine Reihe von Beziehungen:

Tα=  Tβ  = Tγ  = ...      insgesamt P - 1 Gleichungen
pα  =  pβ  =  pγ  = ...      insgesamt P - 1 Gleichungen
μα1 = μβ1 = μγ1 = ...      insgesamt P - 1 Gleichungen
μα2 = μβ2 = μγ2 =...       insgesamt P - 1 Gleichungen
            .
            .
            .
μαK = μβK = μγK =...     insgesamt P - 1 Gleichungen

Die letzten K Gleichungen ergeben sich daraus, dass die Gleichgewichtsbedingungen für jede Komponente erfüllt sein muss. Daher ist die

Gesamtzahl der Gleichgewichtsbedingungen = (K + 2) (P − 1).

Die Zahl der Freiheitsgrade ergibt sich aus der Differenz der Gesamtzahl der Variablen und Gesamtzahl der Gleichgewichtsbedingungen zu
F = P(K + 1) −  (K + 2)(P − 1):
 

F = K - P + 2 

Diese wichtige Beziehung bezeichnet man als Gibbssche Phasenregel. Wir nennen ein System, für F = 0  invariant und F = 1 univariant.

Falls zusätzlich chemische Reaktionen zwischen den Bestandteilen des Systems angenommen werden, wodurch neue Stoffe entstehen können und die Zahl der unabhängigen chemischen Gleichgewichtsbedingungen sei R, dann ist die Zahl der Freiheitsgrade:
 

F = K - R - P + 2 

In Einkomponentensystemen, d.h. K=1 und R=0, benötigen wir F = 2 Zustandsvariable, um das Verhalten einer Phase (P=1), z.B. reine feste, flüssige oder gasförmige Phase zu beschreiben. Falls zwei Phasen koexistieren (P=2), z.B. ein Eiswürfel im Wasser bei 0°C, dann ist das System nur durch eine Variable (F=1) charakterisiert und für den Tripelpunkt, bei dem alle drei Phasen im Gleichgewicht sind, ist F=0, d.h. dieser Punkt ist eindeutig festgelegt und ich habe keinerlei Einflußnahme auf das System. Wir wollen uns im folgenden nur mit Einkomponentensystemen beschäftigen.
 


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