Mehrelektronensysteme
 
 
Alle Atome - außer Wasserstoff und bestimmte Ionen leichter Elemente - enthalten mehrere Elektronen. Deshalb könnte es scheinen, als ob das Einelektronenproblem, das im vorherigen Kapitel untersucht wurde, von nur geringem praktischen Wert. Jedoch ist das Verständnis der Eigenschaften von Atomen mit einem Elektron bei der Untersuchung der Atome mit vielen Elektronen von großem Nutzen.
 
Die erste Schwierigkeit bei den Mehrelektronenatomen besteht darin, dass es unmöglich ist, die Bewegung jedes einzelnen Elektrons zu beschreiben, weil wir neben der elektrischen Wechselwirkung jedes Elektrons mit dem Kern die gegenseitigen Wechselwirkungen zwischen den Elektronen beachten müssen. So ist die potentielle Energie Ep des ganzen Atoms gegeben durch
 
Ep  = alle ElektronenSZe²/4peori  + alle PaareS /4peorij
(V.1)
 
Die letzte Summe bewirkt eine Kopplung der Bewegung der Elektronen, und daher können wir die einzelnen Elektronen nicht so betrachten, als bewegten sie sich unabhängig voneinander. Jede Änderung in der Bewegung eines Elektrons muss notwendig die Bewegung aller anderen Elektronen beeinflussen. Deshalb können wir nicht von der individuellen Energie jedes Elektrons sprechen, sondern nur von der Energie des gesamten Atoms (oder Ions). Aus dem gleichen Grunde sprechen wir nicht von einer Wellenfunktion für jedes Elektron, sondern nur von einer Wellenfunktion für das gesamte Atom.
 
Das Vielelektronenproblem kann nicht exakt gelöst werden; deshalb sind bestimmte Näherungen erforderlich. Wir werden diese Näherungen anhand der Diskussion des Heliumatoms erläutern.
 
Abbildung1: Ein heliumartiges Atom oder Ion.
 
Von allen Atomen mit mehreren Elektronen, sind diejenigen mit zwei Elektronen die einfachsten, wie etwa das negative Wasserstoff-Ion H (Z = 1), das Heliumatom He (Z = 2) und das einfachionisierte Lithium-Atom Li+ (Z = 3) usw. Die potentielle Energie der Elektronen ist in diesem Fall (Abbildung 1)
 
Ep  =  − Ze²/4peor1Ze²/4peor2 + /4peor12
(V.2)
 
Die beiden ersten Ausdrücke entsprechen der Anziehung zwischen dem Kern und jedem der Elektronen und der letzte Ausdruck der Abstoßung zwischen den zwei Elektronen. Sogar für dieses relativ einfache Problem von nur zwei Elektronen ist es unmöglich, die Schrödingergleichung exakt zu lösen; es ist notwendig, verschiedene Näherungen zu machen. Da die mathematische Diskussion der heliumähnlichen Atome weit über den Rahmen dieser Vorlesung hinausgeht, werden wir uns auf eine qualitative Beschreibung beschränken.
 
Als eine erste Näherung können wir den letzten Ausdruck (oder die Elektron - Elektron - Wechselwirkung) in Gleichung (V.2) vernachlässigen. Dies entspricht der Annahme, dass sich jedes Elektron unabhängig von dem anderen bewegt. So können wir diese Näherung das "Modell unabhängiger Teilchen" nennen. Dann kann die Bewegung jedes Elektrons durch wasserstoffähnliche Wellenfunktionen vom Typ ynlml = Rnl(r) Ylml(θ, φ) beschrieben werden, die durch die so genannte Bahn-Quantenzahlen n, l, ml spezifiziert sind. Die Energie des Atoms erhält man, indem man Ausdrücke der Gestalt von Gleichung E = − RZ²/ (R: Rydbergkonstante = 13,6 eV) für die einzelnen Elektronen aufaddiert. Daher würde in diesem Fall von Helium die Energie der Elektronenbewegung im Grundzustand, n = 1 (wenn wir Z = 2 setzen), EHe = 2 · (−54,4 eV) = − 108,8 eV betragen (2 Elektronen). Der experimentelle Wert ist dagegen EHe = − 78,98 eV. So gibt unsere Näherung erster Ordnung eine Energie, die zu niedrig liegt. Der Grund dafür ist, dass wir die Abstoßung der beiden Elektronen vernachlässigt haben, die dazu tendiert, die Energie des Atoms zu erhöhen.
 
Wir können unsere Näherung verbessern, indem wir die Störung der Elektronenbewegung aufgrund der gegenseitigen Wechselwirkung zwischen den beiden Elektronen berücksichtigen. Es ist eine plausible Verbesserung anzunehmen, dass sich jedes Elektron nicht nur im Zentralfeld des Kerns; sondern auch in einem mittleren Zentralfeld bewegt, das von dem anderen Elektron erzeugt wird. So besteht der scheinbare Gesamteffekt jedes Elektrons auf die Bewegung des anderen darin, die Ladung des Kerns um einen bestimmten Betrag abzuschirmen. Die Energie des Atoms im Grundzustand kann dann als
 
E  =  2(Z − δ)² EH
 
geschrieben werden, dabei ist EH = − 13,6 eV (die Energie für wasserstoffähnliche Bewegung) und δ ist die Abschirmkonstante, die für den Grundzustand von Helium den Wert 0,32 besitzen muss, um Übereinstimmung mit dem beobachteten Wert von EHe zu erzielen. D.h. der Abschirmeffekt jedes Elektrons auf das andere ist etwa gleich einem Drittel der Elektronenladung.
 
Als eine Hilfe wollen wir die Elektronen mit 1 und 2 bezeichnen. Da wir in unserer ersten Näherung angenommen haben, dass sich die Elektronen unabhängig voneinander bewegen, ist die Wahrscheinlichkeit, Elektron 1 an einem gegebenem Ort und zur gleichen Zeit Elektron 2 an einem anderen Ort zu finden, das Produkt der Wahrscheinlichkeitsverteilung der einzelnen Elektronen, weil die beiden Ereignisse voneinander unabhängig sind; PAtom = P(1) P(2). Daraus schließen wir, dass im Modell unabhängiger Teilchen die Wellenfunktion des Atoms das Produkt der Wellenfunktion für die einzelnen Elektronen sein sollte (dies ist auch eine direkte Folgerung aus der Schrödingergleichung für ein System unabhängiger Teilchen). Wenn wir die Bahnquantenzahlen (n, l, ml) des Elektron 1 mit a und die Quantenzahlen des Elektrons 2 mit b bezeichnen, so müssen wir schreiben
 
yAtom  = ya(1) yb(2)
(V.3)
 
Dies ergibt eine Wahrscheinlichkeitsverteilung
 
|yAtom|²  =  |ya(1) yb(2)|²  =  |ya(1)|² |yb(2)|²
(V.4)
 
Infolge der Bewegung der Elektronen weicht das mittlere Zentralfeld, das ein Elektron für das andere hervorruft, vom 1/r-Coulombfeld ab, das der Kern erzeugt. Dies erfordert offensichtlich eine leichte Änderung der Wellenfunktionen ya(1) und yb(2), welche nicht länger mit wasserstoffähnlichen Wellenfunktionen identisch sind. Die Änderung beeinflusst den radialen Anteil Rnl, aber nicht den Winkelanteil Ylml der Wellenfunktion, weil die resultierende Kraft auf jedes Elektron noch eine Zentralkraft ist. Mit geeigneten mathematischen Techniken können wir die Elektronen-Wellenfunktion optimieren und so die Energieniveaus des Atoms mit relativ guter Genauigkeit erhalten.
 
Selbst dann, wenn die in Gl. (V.3) auftretenden Funktionen auf diese Weise optimiert sind, kann jedoch dieser Ausdruck für die Wellenfunktion des Atoms nicht richtig sein. Die Wellenfunktion (V.3) sagt aus, dass sich das Elektron 1 im Zustand a und das Elektron 2 im Zustand b befindet. Aber die Wellenfunktion
 
yAtom  = ya(2) yb(1)
(V.5)
 
die dem Elektron 2 im Zustand a und Elektron im Zustand b entspricht, muss einen Zustand derselben Energie wie bei der Wellenfunktion von Gl. (V.3) darstellen und sollte den Zustand des Atoms ebenso beschreiben wie Gl. (V.3). Die Tatsache, dass die in den Gl. (V.3) und (V.5) gegebenen Wellenfunktionen derselben Energie entsprechen, wird Austauschentartung genannt.
 
Nun sind Elektronen identisch und nicht unterscheidbar und das äußerste, was wir sagen können, ist, dass sich in dem Atom ein Elektron im Zustand a und das andere im Zustand b befindet. Die erfordert, dass die Wellenfunktion yAtom so beschaffen sein muss, dass |yAtom|² (was sie Wahrscheinlichkeitsverteilung beider Elektronen angibt) in Bezug auf die beiden Elektronen symmetrisch ist und zwar so, dass beide Elektronen die gleiche Rolle spielen. Weder die atomare Wellenfunktion von Gl. (V.3) noch die von Gl. (V.5) wird dieser Forderung gerecht. Wir erhalten jedoch eine adäquate Wellenfunktion (welche die Nichtunterscheidbarkeit der Elektronen einschließt), indem wir eine geeignete Linearkombination der Gl. (V.3) und (V.5) bilden und zwar die Funktion
 
yAtom  =  ya(1) yb(2)  ±  ya(2) yb(1)
(V.6)
 
In beiden Fällen (±) ist der Ausdruck |yAtom|² bezüglich der beiden Elektronen symmetrisch.
 
Wir werden in Zukunft die durch Gl. (V.6) gegebenen Wellenfunktionen Bahnwellenfunktionen nennen, da sie das räumliche oder Bahnverhalten der Elektronen in einem Atom beschreiben ohne auf den Spin Bezug zu nehmen. Die beiden Bahnfunktionen von Gl. (V.6) sind in einer Hinsicht sehr verschieden. Die Bahnwellenfunktion mit dem Pluszeichen
 
yS(1, 2)  =  ya(1) yb(2)  +  ya(2) yb(1)
(V.7)
 
ist in den zwei Elektronen symmetrisch und bleibt dieselbe, wenn die Elektronen ausgetauscht werden; d.h. yS(1, 2)  =  yS(2, 1). Auf der anderen Seite ist die Bahnwellenfunktion
 
yA(1, 2)  =  ya(1) yb(2)  −  ya(2) yb(1)
(V.8)
 
in den zwei Elektronen antisymmetrisch und ändert ihr Vorzeichen, wenn die Elektronen ausgetauscht werden; d.h. yA(1, 2)  =  − yA(2, 1).
 
Dieses Symmetrieverhalten spiegelt sich in einer weiteren wichtigen Eigenschaft wider: Die Energie eines Atoms das yS entspricht, kann nicht dieselbe sein, wie die Energie, welche yA entspricht. Dann, wenn die Elektronen 1 und 2 einander sehr nahe sind, sind die beiden Ausdrücke, aus welchen sich diese Funktionen zusammensetzen, fast identisch, und deshalb ist yA sehr klein oder Null. Daher beschreibt die antisymmetrische Wellenfunktion yA einen Zustand, in dem sich die Elektronen niemals allzu sehr nähern und infolgedessen im Mittel eine Abstoßungsenergie besitzen, die relativ klein ist. Andererseits schließt die symmetrische Wellenfunktion yS nicht die Möglichkeit aus, dass sich die Elektronen zu bestimmten Zeiten sehr nahe beieinander befinden, und daher ist die mittlere Abstoßungsenergie des durch yS beschriebenen Zustandes größer als die von yA. Wir stoßen so auf die Tatsache:
 
Heliumähnliche Atome können sich in zwei verschiedenen Zuständen befinden, die verschiedene Energien und verschiedene atomare Bahnwellenfunktionen yS  und yA bei gleichen Bahnquantenzahlen a und b der beiden Elektronen im Modell unabhängiger Teilchen besitzen.
 
Mit anderen Worten, ein Atom mit zwei Elektronen besitzt zwei Folgen stationärer Zustände und Energieniveaus, von denen eine durch die symmetrischen Bahnwellenfunktionen, die andere durch die antisymmetrischen Bahnwellenfunktionen beschrieben wird. Dieser rein quantenmechanische Effekt folgt aus der Tatsache, dass Elektronen ununterscheidbar sind.
 
Die einzige Ausnahme von obiger Feststellung ist der Fall, in dem die beiden Sätze der Bahnquantenzahl der Elektronen identisch sind; d.h. a = b. Dann ist yA = ya(1) ya(2) − ya(2) ya(1) = 0. Wenn die zwei Elektronen denselben Satz von Bahnquantenzahlen besitzen, ist deshalb nur der symmetrische Bahnzustand möglich.
 
 
Abbildung 2: Spinzustände für ein System von zwei Elektronen
 
 
Bis jetzt haben wir nur die Wellenfunktionen betrachtet, welche die räumliche Verteilung der Elektronen beschreiben. Eine vollständige Beschreibung des Atomzustandes erfordert, dass wir den Spin der Elektronen berücksichtigen. Jedes Elektron hat einen Spin von ½. Der Spin des einen Elektrons kann entweder parallel oder antiparallel zum Spin des anderen Elektrons orientiert sein; dies gibt entweder einen Gesamtspin ein (S = 1) oder Null (S = 0) (Die Werte der Quantenzahlen für den gesamten Bahndrehimpuls, Gesamtspin oder deren Komponenten werden durch große Buchstaben bezeichnet. Die entsprechenden Größen für individuelle Elektronen werden duch kleine Buchstaben bezeichnet). Spinzustände mit S = 0 werden Singuletts genannt, da man sie, wie in Abbildung 2 (links) gezeigt, nur auf eine Weise bilden kann. Wenn jedoch S = 1 ist, kann der resultierende Spin-Vektor drei Orientierungen im Raum haben, die MS = +1, 0 und -1 entsprechen (Abbildung 2, rechts). Deshalb gehören zu Spin-Zuständen mit S = 1 drei Spin-Wellenfunktionen (Tripletts).
 
Man kann zeigen, dass die Gesamt-Spin-Wellenfunktion des Singulett-Zustandes (S = 0) in den beiden Elektronen antisymmetrisch ist, während die drei Gesamt-Spin-Wellenfunktionen des Triplett-Zustandes (S = 1) in den beiden Elektronen symmetrisch sind. Diese Spin-Wellenfunktionen kann man durch χ+, c- für einzelnen Elektronen ausdrücken:
 
χA   =   1/Ö2 [χ+(1) c-(2) − χ+(2) c-(1)] MS  =  0
χS  = ì 
í 
î 
χ+(1) χ+(2) MS  =  +1
1/Ö2 [χ+(1) c-(2) + χ+(2) c-(1)] MS  =  0
c-(1) c-(2) MS  =  −1
 
Der Wert von MS = ms1 + ms2, welcher der Komponente Sz des Gesamtspins entspricht, ist für die einzelnen Wellenfunktionen angegeben. Der Faktor 1/Ö2 dient der Normierung. Man beachte, dass die Wellenfunktion den in Abbildung 2 dargestellten Situationen entsprechen. Zusammenfassend haben wir
 
Singulett-Zustand (S = 0): antisymmetrische Spin-Wellenfunktion χA
Triplett-Zustand (S = 1): symmetrische Spin-Wellenfunktion χS
 
Wir erhalten die Gesamtwellenfunktion des Atoms durch Kombination der durch yS oder yA gegebenen Bahnwellenfunktionen und der durch χS oder χA gegebenen Spin-Wellenfunktion; d.h.
 
ytotal  =  (Bahnwellenfunktion) . (Spin-Wellenfunktion)
 
Die Symmetrie von ytotal hängt offensichtlich von der Symmetrie jedes der beiden Faktoren ab. Da es zwei Arten von Bahnwellenfunktionen und zwei Arten von Spin-Wellenfunktionen gibt, sind insgesamt vier Kombinationen zwischen ihnen möglich. Nun ergibt eine Untersuchung der Energieniveaus des Helium-Atoms, dass durch die symmetrische Bahnwellenfunktion yS beschriebenen Zustände immer Singuletts sind (S = 0) und so den antisymmetrischen Spin-Wellenfunktionen χA entsprechen, während die durch antisymmetrische Bahnwellenfunktionen yA beschriebenen Zustände immer Tripletts (S = 1) sind und so den symmetrischen Spin-Wellenfunktionen χS entsprechen. Es scheint so, dass nur die folgenden Zustände in der Natur erlaubt sind:
 
ytotal  =  (symmetrische Bahnwellenfkt.) . (antisymmetrische Spin-Wellenfkt.)  =  yS χA         Singuletts
oder
ytotal  =  (antisymmetrische Bahnwellenfkt.) . (symmetrische Spin-Wellenfkt.)  =  yA χS          Tripletts
 
In jedem Fall ist ytotal antisymmetrisch, da es das Produkt eines symmetrischen und eines antisymmetrischen Faktors ist. Dies ist eine weitreichende Schlussfolgerung, die in allgemeiner Form für jede beliebige Elektronenzahl wie folgt ausgedrückt werden kann:
 
Die Gesamtwellenfunktion eines Systems von Elektronen muss antisymmetrisch sein.
 
 

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