Massengewichtete Koordinaten

Trajektorien als Lösung der klassischen Bewegungsgleichung bekommt man normalerweise nur durch ihre numerische Integration auf dem Computer. Eine ganze Menge an physikalischer Einsicht kann man jedoch auch schon dadurch gewinnen, dass man das Höhenlinienbild der Energiefläche in einem massengewichteten Koordinatensystem anschaut. Wir werden dies am Beispiel des kollinearen Stoßes illustrieren, bei dem man die wirkliche Trajektorie durch (reibungsfreies) Rollenlassen einer Kugel auf dieser Potentialfläche exakt simulieren kann. Die Monte-Carlo-Mittelung geschieht dann einfach dadurch, dass man die Startbedingungen für die Kugel variiert. Wir untersuchen zuerst die mathematische Transformation in die massengewichteten Koordinaten und dann ihre physikalischen Konsequenzen. Betrachten wir den kollinearen reaktiven Stoß A + BC → AB + C. V(RAB, RBC) ist dann eine Funktion von nur zwei zwischenatomaren Abständen, RAB = RB − RA und RBC = RC − RB. Wir führen nun zwei neue Koordinaten, Q1 und Q2, durch die folgende Transformation ein:
 

Abb. 1: Die Konstruktion der gescherten Koordinaten Q1 und Q2 aus den physikalischen Kernabständen RAB und RBC (siehe erste und zweite Gleichung).
(Nach J.O. Hirschfelder: Int. Quant. Chem. IIIS, 17 (1969))

Q1  =  a RAB + b RBC cos β

Q2  =  b RBC sin β

a, b und cos b hängen von den Massen ab:

a  =  (mA(mB+mC)/M)½

b  =  (mC(mB+mA)/M)½

cos² β  =  mAmB/((mB+mc)(mA+mB))

mit der Gesamtmasse M = mA + mB + mC

Die geometrische Bedeutung dieser Abbildung ist in Abbildung 1 dargestellt. Wenn wir Q1 und Q2 als kartesische Koordinaten auffassen, ist der Effekt der Transformation eine Scherung der beiden Abstandskoordinaten, so dass sie einen Winkel β einschließen. Wenn wir daher die Potentialenergie als Funktion von Q1 und Q2 ansehen und in der Q1-Q2-Ebene zeichnen, werden Eingangs- und Ausgangstal asymptotisch den Winkel β miteinander bilden (Abbildung 2). Solch ein Höhenlinienbild ist als geschertes Höhenlinienbild bekannt.
 

Abb. 2: Gitter aus massengewichteten Koordinaten. Der Punkt (Q1,Q2) auf dem Gitter ist derselbe wie in Abb. 1.



Der Variablenwechsel in der ersten und zweiten Gleichung oben drückt die Koordinaten Qi mittels der Bindungsabstände Rik aus, die die natürlichen Koordinaten für die Energiefläche bilden. Stoßtheoretiker arbeiten lieber mit dem Abstand RA−BC von A zum Schwerpunkt von BC und RBC. Dadurch ausgedrückt bleibt Q2 unverändert, während Q1 zu

Q1  =  a RA−BC

wird. Entsprechend wird der Theoretiker auf der Produktseite gerne die Abstände RC−AB und RAB benutzen. Damit kann man auch

Q'1  =  b RC−AB

und
Q'2  =  a RAB sin β

benutzen. Die gestrichenen Koordinaten sind um β + π gegenüber den ungestrichenen gedreht, vergleiche dazu Abbildung 3.
 

Abb: 3: Darstellung einer Potentialfläche A + BC AB + C in gescherten Koordinaten. Die Koordinaten Q' sind gegen Q um p + b  gedreht.
(Nach F.T. Smith: J. Chem. Phys., 31, 1352 (1959))



Für diese Koordinatensysteme fndet man jetzt, dass die kinetische Energie des Stoßes (im Schwerpunktsystem) die sogenannte Diagonalform hat.

T  =  ½ (dQ1²/dT + dQ2²/dT)  =  ½ (dQ'1²/dT + dQ'2²/dT)

Was haben wir durch die Einsetzung der physikalischen Koordinaten RAB und RBC und Q1 und Q2 gewonnen. Ganz einfach, dass die obige Gleichung als kinetische Energie eines Punktteilchens der Masse eins betrachtet werden kann, dessen Lage durch Q1 und Q2 bestimmt ist. Wenn wir die Potentialflächen ebenfalls als Funktion von Q1 und Q2 auffassen, ist die Lösung der klassischen Bewegungsgleichung für Q1 und Q2  , d.h. Q1(t) und Q2(t), identisch mit der Lösung der Bewegungsgleichung eines punktförmigen Teilchens, das sich reibungslos auf der Potenzialfläche V(Q1, Q2) bewegt. Statt die klassische Bewgungsgleichung numerisch zu lösen, könnten wir die Lösung simulieren, indem wir eine Kugel der Einheitsmasse auf der Fläche rollen lassen.

Effekte, wie die wirksame Umwandlung von Exoergizität in Schwingung der Produkte auf einer Fläche mit frühem Energieabfall, können im gescherten Koordinatensystem leicht veranschaulicht werden. Auf einer solchen Fläche rollt der Ball berab, während Q1 noch abnimmt, und tritt daher mit hoher Geschwindigkeit in die Talkrümmung ein. Statt entlang dem Ausgangstal herauszulaufen, wird er die Talschulter hochlaufen (der "Bobbahn"-Effekt) und auf dieser Weise viel Energie in Schwingung umwandeln. Wenn cos²β gegen eins geht, wird die Kurve immer schärfer (β kleiner), und der Wirkungsgrad dieser Umwandlung wächst.

So konstruktiv das Bild der rollenden Kugel auf der Potentialfläche sein mag, wir sollten seine Grenzen nicht vergessen: es gilt für einen kollinearen Stoß oder jedenfalls nur bei festem Winkel. Es beschreibt z.B. weder die Rolle der Orientierung der Reaktanden, noch die des Zentrifugalwalls. Es läßt uns auch leicht die vielen Reaktionen übersehen, bei denen die Annäherung bevorzugt von der Seite erfolgt. Schließlich auch den folgenden, gar nicht so seltenen Reaktionstyp: Atom A nähert sich BC zwar vorzugsweise von der B-Seite, wechselt aber den Partner und fliegt mit C statt mit B davon!

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